Im Zuge der ausbrechenden Massenproteste in Zentralsyrien zog das Regime im Sommer 2012 seine Sicherheitskräfte aus den überwiegend kurdischen Gebieten in Nordsyrien ab [1] um seine Ressourcen darauf zu konzentrieren, die Demokratiebewegung im Zentrum und anderen Städten im Land zu ersticken. Es wurden nicht nur Militärs, Polizisten und Geheimdienstmitarbeiter abgezogen, sondern auch hochrangige Baath-Beamte, Ölingenieure und Verwaltungsbeamte flohen aus der Region. Die PYD und verbündete Parteien versuchten, das politische Vakuum zu füllen. Eine angebliche Vereinbarung zwischen der PYD und dem syrischen Regime sah vor, dass jede Seite den Status der anderen Seite tolerieren würde.
Es entstand eine weitgehend autonome Selbstverwaltung – ein historischer Schritt für die kurdische Selbstbestimmung. Die Selbstverwaltung sollte nicht zuletzt die kurdische, ethnisch und religiös heterogene Bevölkerung vor dem Machtanspruch und der eliminatorischen Gewalt radikal-islamistischer Milizen schützen. Statt sich an der Seite der syrischen Opposition und anderer kurdischer Parteien der Revolution in Zentralsyrien anzuschließen, konzentrierte sich die PYD auf den Aufbau ihrer autonomen Selbstverwaltung. Die anfängliche Zusammenarbeit zwischen arabischen, syrischen und kurdischen Gruppen in der Protestbewegung nahm unter anderem aus diesem Grund im Laufe des Bürgerkriegs weiter ab.
Ihr Gebiet umfasste bald den gesamten Nordosten Syriens. Die Expansion verdankten sie ihrem Kampf gegen den IS und der Duldung der PYD durch die syrische Regierung. Unterstützt von der internationalen Anti-IS-Koalition vertrieben sie die Dschihadisten und übernahmen deren Territorien. Langfristig wollte die PYD den sogenannten “Demokratischen Konföderalismus” umsetzen, also die Idee einer demokratisch-ökologischen Zivilverwaltung, die weder Grenzverschiebungen noch Eigenstaatlichkeit propagiert, sondern sich auf kommunaler Ebene konstituiert. Damit einhergehend sollten die Rechte der Frauen gestärkt, das Rechtswesen und die Institutionen säkularisiert und zu einem gewissen Grad die Interessen der ethnischen und religiösen Minderheiten eingebunden werden.
Trotz dieser Versuche und der erfolgreichen Umsetzung einiger demokratischer Praktiken im Vergleich zu anderen Teilen Syriens, insbesondere denen unter dem syrischen Regime, blieb die autonome Selbstverwaltung der PYD autoritär und wollte ihren Anspruch auf die Region aufrechterhalten. Dabei beging sie erhebliche Menschenrechtsverletzungen, unterdrückte und verfolgte andere politische Parteien und deren Mitglieder sowie Teile der arabischen Bevölkerung.
Die politischen wie militärischen Feindseligkeiten seitens der Türkei verschärften die bestehenden autoritären Tendenzen innerhalb der PYD. Dies führte zur sozialen Ausgrenzung kurdisch-syrischer Kritiker*innen, zur Verfolgung ihrer Parteien und Vereine sowie zur Zensur von Veranstaltungen und Veröffentlichungen.
Schon seit 2015 verschärfte die Türkei die Gewalt gegen die pro-kurdische Oppositionspartei in der Türkei, die Demokratische Partei der Völker (Halkların Demokratik Partisi, HDP), und die kurdischen Regionen im eigenen Land und schlug Aufstände in Diyarbakır, Mardin und Cizîrê nieder. Seit 2016 konzentriert sich die neo-osmanische Expansionspolitik Erdoğans zunehmend auf die kurdische Region im Norden Syriens. Zwischen 2016 und 2019 führte die Türkei in der Region drei aufeinanderfolgende Militäroffensiven durch, um das an die Türkei grenzende kurdische Selbstverwaltungsgebiet militärisch zu verkleinern. Die zweite türkisch geführte sogenannte Operation “Olivenzweig” ab Januar 2018 markiert den Beginn des Tatzeitraums der vorliegenden Strafanzeige. Die Operation zielte einerseits darauf ab, die militärische und politische Kontrolle über die Region Afrin zu erlangen, die die Türkei bis heute innehat, und andererseits die vorwiegend kurdisch-stämmige Bevölkerung zu vertreiben.
Der türkische Einmarsch nach Afrin im Januar 2018 ist der bislang letzte Versuch der Türkei, diesen Konflikt militärisch zu lösen. Offiziell wird Afrin seit März 2018 zwar durch syrische Lokalräte verwaltet, de facto kontrolliert jedoch die Türkei die Region. Die bewaffneten islamistischen Milizen, die zuvor schon unter dem Dach der Syrian National Army (SNA) [2] vielerorts Verbrechen begangen haben, errichteten eine Willkürherrschaft: Mit Wissen der Türkei begehen sie systematisch Gräueltaten wie willkürliche Verhaftungen von Zivilist*innen, sexualisierte Gewalt, Folter, systematische Plünderungen und Tötungen. Das kurdische Neujahrsfest Newroz wurde endgültig verboten. Straßennamen und Lehrpläne wurden vom Kurdischen ins Türkische oder Arabische geändert. In Afrin, das zuvor die am dichtesten kurdisch besiedelte Region Syriens war, sind Kurd*innen inzwischen die Minderheit. Die Bevölkerung soll - wie in den Jahrzehnten zuvor - entweder assimiliert, vertrieben oder zerstört, vor allem aber die kurdische Autonomie verhindert werden. Türkische Politiker*innen sprechen von Afrin als einem Teil des mystischen „Roten Apfels“ („Kızıl Elma“), der sinnbildlich für die imperialen Bestrebungen des Osmanischen Reichs steht. Afrin nimmt so einen zentralen symbolischen Platz in der expansiven Großmachtpolitik der Türkei ein.